Kommentar: Niemand kennt Indien

„Das Arbeitsklima mit den indischen Kollegen ist sehr angenehm. Grundsätzlich geht der Inder alles etwas ruhiger an“, ist dem Eintrag zu Bangalore auf der Reise-Website wikitravel.org zu entnehmen – eine Behauptung, in der man sich als Europäer leicht wiederfindet, wenn man Indien weniger mit klimatisierten Büros als vielmehr mit Strandhütten im Touristenmagnet Goa vergleicht. Tatsächlich, das hat meine Erfahrung mit Kollegen aus dem Medienbusiness in Bangalore gezeigt, ist aber genau das Gegenteil der Fall: Die indischen Kollegen sind strebsam, ständig unter Strom; und sie scheuen sich nicht, Nachtschichten einzulegen oder ohne weitere Diskussion am Wochenende zu arbeiten. Schnelligkeit siegt; jeder Artikel muss rascher online sein als beim direkten Mitbewerber. Bedeutet das nun, dass der Autor von Wikitravel.org falsch lag und alle Inder Workaholics sind? Nein.

Denn an anderen Orten wiederum wird deutlich langsamer gearbeitet. In diversen Coworking-Spaces der großen Metropolen wie Mumbai, Delhi und Bangalore sitzen etwa die Freelancer und Start-Ups, die gerne auch mal länger Mittagspause machen und sich von Gleichgesinnten neues Input holen, statt stur einem vorgegebenen Plan zu folgen – alleine innerhalb einer einzigen Stadt finden sich also bereits unterschiedliche Arbeitskulturen, abhängig unter anderem von der Kultur des jeweiligen Unternehmens. Und der Charakter wandelt sich gar noch mehr, wenn man in eine andere Stadt fährt: In Bangalore, dem „Silicon Valley Indiens“, dreht sich Vieles um Web, Cloud und Mobile, sowie das Digitale Arbeiten; Delhi wiederum ist eine eher langsame, saubere Stadt, in der der öffentliche Verkehr mit Erdgas betrieben wird und an jeder Ecke Mistkübel stehen – die Hauptstadt Indiens erinnert mehr an andere asiatische Metropolen, wie etwa Kuala Lumpur, als an die übrigen indischen Großstädte. Und Mumbai ist mit seinen mindestens 15 Millionen Einwohnern überhaupt extrem facettenreich: Im Süden der Stadt tummelt sich die Wirtschafselite der vielzitierten „Finanzmetropole“, der Stadtteil Bandra in der Nähe des Flughafens wiederum gilt als Tummelplatz für Künstler und Kreative; hier residiert so mancher Bollywood-Filmstar, und ganze Grätzel sind in der Hand christlicher Communities.

Was ist also dieses „Indien“ von dem wir immer schreiben? Die Antwort muss Liebhaber des Schubladendenkens leider enttäuschen: „Indien“ also solches gibt es nicht; es gibt kaum eine gemeinsame Arbeitskultur, sondern ein Aufeinandertreffen verschiedenster Facetten
. Hier treffen etliche Kulturen, Religionen, Kasten, Unternehmenskulturen und Sprachen aufeinander – und jede davon hat ihre eigenen Regeln. Pauschalaussagen sind somit ein Ding der Unmöglichkeit – und wirklich gänzlich kennen oder gar verstehen wird ein europäischer Manager dieses Land wohl niemals. (Stefan Mey)

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von

Wolfgang Bergthaler

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