Krishna mit vielen Gesichtern

Indien zwischen „Wahrheit“ und „Lüge“

Wie schon öfter an dieser Stelle berichtet, ist es in Indien nicht immer einfach objektive Zahlen, Daten und Fakten zu erhalten. Die typischen Symptome reichen von Übertreibung bis hin zu schlichten Falschaussagen. Subjektive Informationen werden von Europäern selten ausreichend hinterfragt und validiert, was zu falschen Entscheidungen führen kann.

Auf der Suche nach der Wahrheit in Indien

Um ein objektives Bild des indischen Marktes zu erhalten, empfehle ich, Informationen von unabhängigen Dritten einzuholen, zum einem durch Experteninterviews und zum anderen durch informelle Netzwerke. Informelle Kanäle sind für die Informationsbeschaffung besonders wichtig und ergiebig. In Indien gibt es nämlich keine Geheimnisse – zumindest nicht, wenn man Zugang zu entsprechenden Informanten hat. Der Aufbau von vertrauenswürdigen und unabhängigen Netzwerken vor Ort ist daher der Schlüssel für den Zugang zu belastbaren Informationen.

Hinduismus, Polytheismus und Mythologie

Die Vielfalt Indiens spiegelt sich auch in der faszinierenden Komplexität wider, wie Wahrheit interpretiert wird. Die Relativität der Wahrheit fußt tief in den Grundfesten des Hinduismus und der indischen Mythologie.

Der Hinduismus, eine der ältesten Religionen der Welt, umfasst eine breite Palette von Glaubensrichtungen, Riten und Philosophien. Anders als viele abrahamitische, monotheistische, Religionen gibt es im Hinduismus keine einheitliche Dogmatik oder zentrale Autorität. Stattdessen gibt es eine Vielzahl von Göttern, Göttinnen und mythologischen Erzählungen, die unterschiedliche Aspekte des Göttlichen repräsentieren.

Es kommt drauf an…

Die Suche nach der Wahrheit im Hinduismus ist weniger darauf ausgerichtet, eine absolute Wahrheit zu finden, sondern vielmehr darauf, die individuelle (spirituelle) Reise zu verstehen. Die verschiedenen Perspektiven schaffen einen Raum für die Relativität der Wahrheit innerhalb des Hinduismus.

So ist die indische Mythologie reich an Geschichten, die tiefgründige philosophische und moralische Lehren vermitteln. Mythische Erzählungen, wie die Mahabharata und die Ramayana, präsentieren oft komplexe moralische Dilemmata, in denen die Wahrheit nicht immer eindeutig definiert wird. So begehen in der indischen Mythologie „tugendhafte“ Götter auch „Verbrechen“, so wie wir es noch teilweise aus der römischen und griechischen Sagenwelt kennen.

In der indischen Kultur wird die Wahrheit oft durch die individuelle Perspektive geprägt. Das Leben ist divers und dynamisch, wie es Indiens bekanntester Mythologe Devdutt Pattanaik in diesem Video (siehe links) erklärt.

Was gestern gegolten hat, muss heute keine Richtigkeit mehr haben…

Was für dich gilt, muss für mich noch lange nicht gelten…

Vielleicht kennen Sie diese Art von „Relativierung“, “Flexibilität” und „Mehrdeutigkeit“ aus der Arbeit mit Indien? Und wahrscheinlich können auch Sie – so wie ich – nicht immer gut damit umgehen.

Wenn wir allerdings einen Schritt zurücktreten, erkennen wir in dieser zutiefst altindischen Definition von Wahrheit, das, was uns die moderne Managementliteratur als VUCA verkauft.

Hinter diesem englischen Akronym stehen “Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity”. Sie beschreiben das Umfeld, mit dem sich Unternehmen im betrieblichen Alltag heute auseinandersetzen müssen. Damit sind indische Qualitäten wie Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit mittlerweile auch bei uns abgekommen.

Man könnte auch sagen, unsere auf den „Westen“ zentrierte Welt wurde in den letzten Jahren etwas „indischer“. Wir können hier also noch eine Menge von den Indern lernen.

Foto: Steve Jurvetson

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von

Wolfgang Bergthaler