Gastartikel von Thomas Seifert, Stellvertretender Chefredakteur der Wiener Zeitung
Doing more with less for more – mehr mit weniger für mehr. So lautet die Devise und gleichzeitig die Herausforderung für die indische Wirtschaft und die indische Regierung.
Mehr Menschen: Das heißt mehr Nahrung, Energie, mehr Autos und Flugzeuge, mehr Straßen, Schulen, Hospitäler.
Mehr Menschen, ein Segen: Mehr Hände, die produktiv ans Werk gehen können, mehr Hirne, die Neues ersinnen und Altes neu denken können. Doch mehr Menschen können auch ein Fluch sein: Wenn sie nicht die nötige Bildung bekommen, um in einer modernen Volkswirtschaft von Nutzen sein zu können. Oder wenn die Bauern es nicht schaffen, Essen für all diese Menschen auf den Tisch zu bekommen. Oder wenn es nicht genügend Ärzte und Hospitäler gibt, um für die Kranken und Hilfsbedürftigen zu sorgen. Die demographische Dividende, die Indien erwartet zu nutzen, und zu verhindern, dass sie zu einem Fluch wird, das wird eine riesige Herausforderung.
Doch in Delhi fehlt der große Masterplan, wie Peking ihn hat, wo alle fünf Jahre ein Plan erstellt wird und die Wirtschaft und Gesellschaft systematisch entwickelt wird. Indien wächst nicht geplant, sondern chaotisch, anarchisch, organisch. Nicht die großen Projekte, die Fünfjahrespläne, die Planungs- und Entwicklungskommissionen treiben das Land voran, sondern Millionen von Innovatoren, Geschäftsleuten, Forschern, Bauern, Dabbahwallahs, Slumbewohner und Dorfvorsteher.
In Indien, da geht es ums Detail. Das Land der Megacities und der 638.365 Dörfer ist ein Mosaik an 2.000 Ethnien, 22 offiziellen Sprachen und vielen weiteren Sprachgruppen, Kulturen, Kasten und Klassen. Und die Menschen in den Großstädten und Dörfern haben höchst unterschiedliche Bedürfnisse, Träume und Probleme
. Während die Slumbewohner und Kleinbauern einen täglichen Kampf ums Dasein führen, leben die Reichen wie auf einem anderen Planeten.
Red Bull, der kleine Luxus.
Was bedeutet das für europäische Unternehmen? Indien braucht adäquate Infrastruktur und muss die Landwirtschaft, den Einzelhandel und Tourismus modernisieren. Es fehlt an den banalsten Dingen wie sauberem Wasser oder Toiletten.
Die Mittelschicht ist Statusbewusst und liebt Luxus, es gibt ein riesiges Reservoir an jungen Menschen, die mehr vom Leben erwarten. Diese Jeunesse dorée in Bombay, Delhi oder Bangalore liebt starke Marken.
Eine Dose Red Bull ist freilich für „normale“ Jugendliche unerschwinglich, der Energy Drink ist ein Luxusprodukt. Dennoch – oder gerade deswegen – ist die Marke bei Indiens Schicki-Micki-Jugend höchst erfolgreich. Die klassischen Red Bull-Mobile kurven durch die Städte, das Unternehmen sponsert DJ-Events, Skateboarding und verschiedene „coole“ Sportevents. Die Red-Bull-Zeichentrickwerbung läuft auf Jugend-Sendern wie „Channel V“ oder „MTV“. Als das Red-Bull-Marketing-Team einmal Säckeweise zertretene leere Dosen vor einem der angesagtesten Clubs von Mumbai (oder Bombay, wie viele Mumbaiker die Stadt heute noch nennen) ausleerten, war die Wirkung unglaublich. An diesem Abend verkaufte sich das Wundergebräu von Didi Mateschitz phänomenal – ganz nach der Devise: Was die eben hatten, will ich auch. Die Jeunesse dorée in den indischen Megacities achtet peinlich genau darauf, was die Trendsetter der Peer-Group konsumieren, welche Marken sie präferieren. Statussymbole sind eminent wichtig. Individualismus ist verpönt, es regiert der Herdentrieb.
BMW, Freude am Fahren. Perfektion, 120 Prozent.
Nicht weit vom Club, wo Red Bull seine Dosen verstreut hat, steht ein BMW-Manager auf der Terrasse des Strandclubs Aurus in Juhu Beach steht und erzählt, wie die Geschäfte in Indien laufen. Nämlich gut.
Die Bässe wummern aus dem Boxen, sie mischen sich mit dem Rauschen der Brandung des Indischen Ozeans und dem dumpfen Dröhnen der von Piste 9/27 des nahegelegenen Chhatrapati Shivaji International Airport aufsteigenden Maschinen zum perfekten Soundtrack für den urbanen Jet-Set.
Aurus ist der Treffpunkt der Bollywood-Stars und -Sternchen, der Reichen und Schönen und vor allem der Möchtegerns. Hier tanzt man unter der Sonne und den Sternen, oder diniert im tiefgekühlten mit goldenen und blauen Dekor verzierten Restaurant bei Kerzenlicht und unter Kristall-Kronleuchtern. Dresscode: Smart.
Der Manager – er stammt aus Bombay – sinniert über die Unterschiede zwischen Deutschen, Österreichern oder Schweden einerseits und Indern andererseits. „Bei euch muss immer alles perfekt sein. 120 Prozent. In Indien, da reichen 80, 90 Prozent, wir haben für Perfektion weder die Mittel noch die Muße“, sagt er. Klar, ein BMW sei eben ein BMW, genau deshalb würde er ja auch gekauft, sagt er. Doch in anderen Marktsegmenten sollten die Europäer abgespeckte, etwas günstigere Produkte verkaufen: „So könnten sich auch die Inder den Traum verwirklichen, Markenprodukt X oder Y zu besitzen, ohne den vollen Preis dafür zu zahlen.“ So könnten die Europäer Marktanteile in Indien gewinnen.
Bharat India vs. India Shining
Doch das Indien der Edelclubs, der Superreichen und BMW-Fahrer ist ein winziger Ausschnitt der Realität: Noch immer lebt ein Drittel der Ärmsten der Welt in Indien. 32,7 % der Inder müssen mit weniger als einem Euro (der Armutsgrenze der Weltbank) auskommen, 68,7 % müssen sich mit rund 1,5 Euro zufriedengeben. Für die indische Planungskommission gilt aber jemand, der im Monat etwas unter 10 Euro verdient, nicht mehr als arm – das sind am Tag nur 33 Cents. Für diese Summe bekommt man freilich in Delhi gerade mal ein Kilo Reis und ein Busticket.
Im Jahr 2010 sorgte ein Report der Oxford Poverty and Human Development Initiative (OPHI) für einiges Aufsehen: Nach diesem Bericht leben in acht indischen Staaten mehr Arme als in den 26 ärmsten Ländern Afrikas. Die Tatsache, dass in Indien jährlich 1,7 Millionen Kinder an Unterernährung sterben, sollte das Selbstbewusstsein der indischen Politik bremsen. Der indische Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen erinnert seine Landsleute immer wieder daran: „Nach 20 Jahren Wachstum vergisst die Minderheit der Besserverdienenden, dass Indien bis heute eine der ärmsten Nationen der Welt ist“. Produkte und Lösungen für jene Menschen, die am „Bottom of the Pyramid“, am unteren Ende der sozialen Skala leben, ist wohl die größte Herausforderung für Anbieter in Indien. Die Kunst, die es dabei zu beherrschen gilt: Doing more with less for more.
Thomas Seifert
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Thomas Seifert ist stellvertretender Chefredakteur der Wiener Zeitung. 2011 lebte er einige Monate in Indien und China, um für ein Buch zum Aufstieg Asiens zu recherchieren.
Dieser Artikel erschien auch im Buch Indovation: Produkte für den indischen Markt erfolgreich entwickeln und verkaufen