Mi. Dez 6th, 2023

Als ich gestern Abend auf Einladung des Friedrich A. v. Hayek Instituts ins Novomatic Forum kam um dem Vortrag „India grows at night when the government sleeps“ von Gurcharan Das zu lauschen, wurde mir – bevor ich noch „Good Evening“ sagen konnte – vom Vortragenden selbst die Frage gestellt: „Are you Libertarian?“ – auf gut Deutsch „Sind Sie Liberalist?“.

Liberalist muss offensichtlich die extremistische Variante von Liberaler. Zwar fühle ich mich selbst äußerst freiheitsliebend, frei-denkend, unternehmerisch, dem Staat gegenüber grundsätzlich skeptisch eingestellt und politisch per se liberal. Doch mit der politischen Sekte des Friedrich A. v. Hayek Instituts, die ich gestern zum ersten Mal kennen lernen durfte, kann ich mich definitiv nicht identifizieren. Ich fühlte mich durch zahlreiche Wortmeldungen regelmäßig irritiert und quasi ins politischen Mittelalter zurück versetzt, wo jede andere politische Anschauung von den neoliberalen Inquisitoren religiös-fanatisch verfolgt wird.

Kein Wunder. Denn der österreichische Ökonom Friedrich August von Hayek zählt zu den wichtigsten Vertretern des Liberalismus im 20. Jahrhundert und gilt vielen auch als Vater des „Neoliberalismus“, auch wenn er sich selbst nie als solcher bezeichnet hatte. Hayek war Zeit seines Lebens ein vehementer Kritiker des Sozialismus und gegen jede Art von Staatsintervention in die Wirtschaft. In den 1980er Jahren fanden Hayeks Thesen praktische Anwendung in der Wirtschaftspolitik Ronald Reagans („Reaganomics“) und Margaret Thatchers („Thatcherismus“).

In Wien gibt es mit dem Friedrich A. v. Hayek Institut einen organisierten Fanclub der Neoliberal(ist)en, der die Erfolge des Neoliberalismus wissenschaftlich untermauern und dazu regelmäßig internationale Vordenker ihrer Gesinnung zu Vorträgen einlädt. Gestern durfte Gurcharan Das für deren politische Gesinnung Stimmung machen. Gut fünfundzwanzig Interessierte (offensichtlich allesamt Vereins-Mitglieder) fanden sich um 19 Uhr zur Vorlesung dieser „lebenden Legende“, wie Das von den Veranstaltern vorgestellt wurde.

Gurcharan Das ist ohne Zweifel ein gefragter Mann mit einer makellosen Karriere. Als Harvard-Absolvent brachte er es bei Procter & Gamble zum CEO der indischen Business Unit, und später im Mutter-Konzern zum Managing Director für strategische Planung. Seit 1995 ist er Autor und veröffentlichte mehrere Bücher, darunter die Bestseller „India Unbound“ und „The Difficulty of Being Good“. Außerdem schreibt Das regelmäßig Kommentare für verschiedene indische Zeitungen sowie die New York Times, Wall Street Journal und die Financial Times.

Gestern stellte er sein neues Buch „India grows at night when the government sleeps“ vor. Indien ist eines der kapitalistischen Länder der Welt, aber nicht wegen der Politik, sondern trotz(!) der (sozialistischen) Politik. Business liegt den Indern, oder besser gesagt den sog. „Business Communities“, den Vyshas, einfach im Blut. Insofern ist ein schwacher und angeschlagene Staat, so wie er sich heute präsentiert, durchaus ein Vorteil für ein Land voller Entrepreneure.

Als Erfolgsbeispiel des indischen Kapitalismus ohne Staatsintervention, nennt er Gurgaon, die boomende Vorstadt südlich von Delhi. Noch vor fünfundzwanzig Jahren war Gurgaon ein armes Bauerndorf ohne Anbindung zur Hauptstadt. Heute ist Gurgaon Standort für hunderte multinationale Konzerne, die dort zig tausende Menschen in Ihren Glaspalästen beschäftigen. Die Immobilienpreise gehören zu den höchsten im Land. Hunderte Luxus-Immobilien beherbergen die Neureichen, die durch oder in Gurgaon ein Vermögen gemacht haben und dieses in den 26 Malls nun wieder ausgeben können.

Dass es dort keine öffentliche Infrastruktur wie Kanalisation, Müllentsorgung, verlässliche Stromversorgung oder öffentlichen Verkehr gibt, verschweigt er gar nicht. Das dürften für Das nur „nice to have’s“ sein. Aber wenn Gurgaon so toll wäre wie er sagt, würde er dort leben. Stattdessen bevorzugt er es im chicen Süd-Delhi zu residieren. Dort gibt es nämlich – als einzigen Ort in Indien – all die Infrastruktur, die wir hier in Europa auch kennen.

Gurcharan Das suchte auch immer wieder den Vergleich mit China. Die ostasiatische Supermacht hatte seiner Meinung nach lediglich das Glück die letzten dreißig Jahre kompetente Technokraten als Staatslenker zu haben. So konnte der „Top-Down-Approach“ und seine staatliche Wirtschaft auch fantastische Wachstumsraten erzielen. Er stellt sich aber auch die Frage: Wie lange kann ein Land Glück haben, wenn es um Qualität seiner Politiker geht..?

China hat einen starken Staat aber eine schwache Gesellschaft
. Im Gegensatz dazu, ist Indien eine Geschichte von „public failure“ und „private success“, aber mit einer starken Gesellschaft, die auf Freiheit, Demokratie und Pluralismus beruht. Da jede Mittelschicht früher oder später nach Freiheit strebt, muss China die Gesellschaft(spolitik) reformieren, um Revolutionen zu verhindern und das Wachstum nachhaltig zu sichern. Man könne ein Volk nicht ewig klein halten.

Die indischen Gesellschaft war seit Jahrhunderten liberal und offen. Obwohl das Kastenwesen die Gesellschaft hierarchisch organisierte, gab es immer eine funktionierende Gewaltentrennung sowie einen gesunden Wettbewerb der Ideen und politischen (und religiösen) Kräfte. Indien müsse aber jedenfalls seine Governance reformieren. Es braucht Reformen im Bereich der öffentlichen Verwaltung, damit die Unternehmer arbeiten und die Wirtschaft wachsen kann. Die Verwaltung, dürfe der Wirtschaft nicht im Weg stehen, sondern müsse sie voll unterstützen. Dafür forderte Das – zur Überraschung aller Zuhörer – für Indien einen stärkeren Staat. Das war so im Drehbuch der neoliberalen Organisatoren wohl nicht vorgesehen. Außerdem schlägt er vor, die politische Macht zu dezentralisieren sodass der Wettbewerb der Bundesstaaten untereinander für positive Akzente führt.

Nach Ansicht von Gurcharan Das geht es der indischen Mittelschicht um politische und persönliche Freiheit. In der Bewegung und Mobilisierung von Anna Hazare im letzten Jahr sieht er eine bürgerliche Revolution, durch die Indien letztendlich seine gesellschaftspolitische Unabhängigkeit errungen hat. Er setzt die Massendemonstrationen gegen Korruption 2011 der Unabhängigkeit von der Britischen Krone 1947, der Implementierung der Demokratie im Jahre 1950 und der wirtschaftlichen Öffnung 1991 gleich.

Das kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen! Die indische Mittelklasse halte ich (mittlerweile) für absolut unpolitisch. Sie wählt nämlich nicht einmal. Politik wird in Indien von und für die armen Massen gemacht. Meiner Meinung nach akzeptieren und arrangiert sich die „Middle Class“ mit ihrer inkompetenten politischen „Elite“. Das entspricht auch dem ureigensten indischen Wert „dharma“, was so viel wie Pflichterfüllung und Schicksalsergebenheit bedeutet.

Indien wird also auch in Zukunft nur dann wachsen, wenn die Regierung schläft. So richtig wird der Subkontinent seine Potentiale erst dann entfalten sobald es – so wie China Glück hat – fähiges politisches Personal zu finden. Derzeit deutet aber nichts darauf hin. Regierung wie Opposition haben kaum fähiges Personal am Start. Indien vergibt damit seine Jahrhundert-Chance. Daher wird vielleicht der Turbokapitalismus weiter wachsen/wuchern, Indien aber nicht der gemeine Bevölkerung einen menschenwürdigen und lebenswerten Lebensstandard schaffen können.

Dr. Barbara Kolm, Generalsekretärin des Hayek-Instituts schließt den offiziellen Teil dann sinngemäß: Möge Österreich in den kommenden Jahren jene Reformen angehen, die Indien bereits seit 1991 erfolgreich umgesetzt hat. Obwohl ich ein großer Fan Indiens bin, wünsche ich keine indischen Verhältnisse in Österreich. Unser Sozial- und Bildungssystem, das Einkommensniveau und der Lebensstandard für die breite Bevölkerung sowie die öffentliche Infrastruktur und die unglaublich hohe Lebensqualität sprechen dafür, dass unser System in der Vergangenheit nicht so verkehrt wer. Natürlich muss sich in Zukunft vieles ändern, damit es so bleibt wie es ist. Ich verwehre mich aber absolut, Indien (oder auch China) und deren Wirtschaftspolitik zu verherrlichen.

Beim Ausklang bei Wein und Wasser wurde ich für mein Statement „die Wirtschaft soll den Menschen dienen (und nicht Selbstzweck sein)“ sogar schief angesehen.

Dann konnte ich die Frage letztlich für mich eindeutig beantworten: I am NOT a Libertarian!

(Kommentar von Wolfgang Bergthaler)

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Von Wolfgang Bergthaler

Wolfgang Bergthaler ist seit 2004 mit Indien beruflich und privat eng verbunden. Als Entrepreneur, Berater und Blogger hat er Land und Wirtschaft von den spannendsten Perspektiven kennen gelernt. Auf "Indische Wirtschaft" teilt er seine Erfahrungen, insbesondere zu den Themen IT Outsourcing, Tech Startups, Marketing und Vertrieb.

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