Leapfrogging in echt (Kommentar von Stefan Mey)

Gestern sind wir von Bombay nach Bangalore gereist. Mit dem Zug. Das dauert 24 Stunden – zahlt sich aber aus, weil man erstens einen tollen Blick auf die Landschaft abseits der Metropolen erhaschen kann, und zweitens immer wieder mit interessanten Leuten ins Gespräch kommt, oder diese zumindest beobachten kann.

So kam es, dass irgendwo auf halber Strecke zwei alte Damen und ein alter Herr zustiegen. Die beiden Hausfrauen trugen traditionelle Saris, ebenso wie gewaltigen Nasenschmuck, und schienen aus einer ländlichen Gegend zu kommen. Man beäugte einander vorsichtig, versuchte sich in Gesprächen: Woher wir kommen? Und wohin wir fahren? Dann widmen sich die Seniorinnen wieder ihrem Gespräch – bis irgendwann ein Handy läutete, die Dame es aus ihrer Handtasche fischte und zu telefonieren begann.

Mobilfunk ist überall in diesem Land, selbst bei der ländlichen Bevölkerung. Und auch andere neue Technologien etablieren sich: Als wir an einem Slum in Bombay vorbei spazierten, erblickte ich die Werbung eines indischen Mobilfunk-Anbieters, der den raschen Zugriff auf Facebook pries – darunter: Wellblechhütten, Dreck, Armut. “Kein sauberes Klo haben, aber stattdessen ein Facebook-Konto”, dachte ich mir da kopfschüttelnd.

Zurück zum Zug: Dass wir selbst mit unseren Smartphones spielten, war für die alten Damen normal. Für Verwirrung sorgte aber dieses etwas größere leuchtende Kastl, das ich dabei hatte. “Computer?”, fragt die eine fragend den begleitenden Mann
. “Laptop”, sagte er wissend. Und sie wiederholte staunend: “Laptop…”. Handys kennen sie, Laptops nicht. Man hat einfach eine Generation der Bildschirme übersprungen – das ist Leapfrogging, wie es im Buche steht.

Anlässlich solcher Situationen drängt sich die frage auf: Was ist eigentlich aus der “One Laptop per Chield”-Initiative des MIT-Professors Nicholas Negroponte geworden, mit der jedem Kind in Entwicklungsländern ein Laptop zur Verfügung gestellt werden soll? Und die wohl passendste Antwort auf diese Frage lautet: Wurscht.

Denn inzwischen arbeiten Länder wie Indien slebst an der Lösung der Probleme: Handys und Smartphones haben hier selbst den Sprung in die Bevölkerung geschafft, während Computer und Laptops nach wie vor ein unbekanntes Gut bleiben. Und sollte der Anfang Oktober vom indischen Bildungsministerium vorgestellte Billig-Tablet-PC (um rund 60 Dollar statt ursprünglich geplanter 30 Dollar) ebenfalls von den Massen angenommen werden, so werden westliche Besucher wohl auch in Zukunft mit ihren Laptops für ungläubige Blicke sorgen – aber weniger aus Faszination für moderne Technologie, sondern aus Unverständnis für die Verwendung eines derart veralteten Geräts.

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Beitrag veröffentlicht

von

Wolfgang Bergthaler

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