Indien – die Globalisierung schlägt zurück

Bis vor wenigen Jahren hat Indiens Industrie ganz auf „Reverse Engineering“ gesetzt. Darunter versteht man das Nachahmen von Technologien und Kopieren von Produkten mit billigeren Arbeitskräften und lokalen Ressourcen um günstigere Produkte für den preis-sensitiven Heimmarkt herzustellen. Das war gestern! Derzeit ereignet sich in Indien eine industrielle Revolution, die die ganze Welt in eine neue Phase der Globalisierung führen wird.

Phase 1: Globalisierung
Wenn wir das letzte Jahrhundert betrachten, gingen Innovationen und deren Vermarktung von der westlichen Welt aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die europäischen und amerikanischen Volkswirtschaften zu tun die enorme Binnennachfrage zu stillen. Erst nach den ersten wirtschaftlichen Stagnationserscheinungen sahen sich die Unternehmen nach neuen Absatzmärkten um. Dort wo die Kundenbedürfnisse ähnlich waren, konnten sie ihre Produkte ebenfalls vertreiben. Die USA exportierte nach Japan und Europa. Die westeuropäischen Unternehmen expandierten nach der Öffnung nach Osteuropa. Es entstanden multinationale Konzerne, die Globalisierung nahm Fahrt auf.
Mit Indien hat dieses einfach Export-Modell nur bedingt funktioniert – meist in Nischen- & Spezialbereichen des Maschinen- & Anlagenbaus, wo Indien gezwungen war für diese Technologien Höchstpreise zu bezahlen
.

Phase 2: Glocalization
Um noch wettbewerbsfähiger zu sein und international höhere Marktanteile zu erzielen, versuch(t)en Unternehmen ihre Produkte an die Bedürfnisse des neuen Zielmarkts anzupassen. Für den indischen Markt musste immer viel angepasst werden. Zu unterschiedlich sind die Konsumbedürfnisse und Preisvorstellungen. Zum Beispiel hat McDonalds in Indien eine komplett andere Speisekarte (kein Beef, viele vegetarische Gerichte) und ein Lieferservice.
Im Mittelpunkt dieser Phase stehen Produkt-Costumising und oft auch Verzicht teurer Features. Billigere, lokalisierte Produkte mit einer hoher Grundfunktionalität waren das Gebot der Stunde.

Phase 3: Lokale Innovation
In Indien gibt es eine andere Gehaltsverteilung als im Westen. Die indische Mittelklasse beginnt bei etwa einem Zehntel unseres Einkommensniveaus. Auch wenn relativ gesehen die Kaufkraft höher ist, kommen diese Personen als Kunden für westliche Produkte auf Grund des Preises nicht in Frage. Aber jeder (!) strebt nach eigenem Individualverkehrsmittel wie Auto oder Moped, Handy und Computer, Krankenversicherung und Gesundheitsleistungen. Um sie zu als Kunden zu gewinnen, reicht bloßes Produkt-Customising nicht mehr aus, sondern es braucht technologische Quantensprünge und bahnbrechende Innovationen in der Entwicklung, Produktion und im Vertrieb. Produkte werden nicht nur angepasst, sondern für den indischen Markt absolut massgeschneidert – funktionell und preislich. Diese Entwicklung führte bereits zum weltweit billigsten Auto, dem Tata Nano um umgerechnet 1.500 Euro, 100 Euro-Laptops, Mobiltelefone für 20 Euro oder Schuhe um einen Euro. All diese Produkte erfüllen die gleichen (Grund-)Bedürfnisse wie europäische, wenn sie nicht sogar besser geeignet sind: zum Beispiel Handys für Analphabeten und extreme Witterungsverhältnisse, mit speziellen Applikationen wie mobile-Banking für Mikrokreditnehmer , Informationszugriff zu den Reisbörsen für Bauern oder mobile learning für Kinder.
Was für uns noch unvorstellbar ist, ist in Indien schon Realität. Das sind Ergebnisse einer neuen Innovationskraft, die es ausschließlich in den Entwicklungsländern gibt und nicht im Westen. Gewisse Technologien werden einfach übersprungen, weil sie in der heutigen Zeit keinen Sinn mehr machen – vor allem für die Armen. Beispielsweise gibt es in Indien 10 mal so viele Mobiltelefone als Festnetzanschlüsse, einem Konzept welches für Wanderarbeiter oder Slumbewohner einfach sinnlos wäre.

Phase 4: Reverse Innovation
Indien hat ideale Voraussetzungen die nächste industrielle Revolution auszulösen. Indische Firmen finden im eigenen Land genug Probleme und Kundenbedürfnisse vor, die einzigartige Lösungen verlangen, insbesondere in der Energieversorgung, Telekommunikation, Mobilität oder im Gesundheitswesen. Dieser Trend ging ursprünglich von so genannten Social Businesses (Produkte für die Ärmsten) aus und ist mittlerweile in der traditionellen Wirtschaft angekommen. Indische  Produktinnovationen werden in Zukunft auch im Westen reüssieren, womit sich schlussendlich die Globalisierung umdreht – durch Innovation (reverse innovation). Das ist aber nicht Zukunftsmusik, sondern passiert bereits heute: Das Konzept der Netbooks; „Tata Nano Europe“ als upgegradetes Elektroauto für Europa oder die Grameen Bank, die bereits Mikrokredite in New York anbietet.
Der Westen muss schon langsam diesen Paradigmenwechsel akzeptieren. Die Welt hat sich verändert – heute kommen die Innovationen aus den Entwicklungsländern in den Westen.
Wenn die indische Wirtschaft auf Innovation setzt, anstatt auf Kopieren alter Technologien (wie es China perfektioniert hat) können wir uns in Europa bald auf die Technologie des 21. Jahrhunderts freuen … Made in India.

(Wolfgang Bergthaler)

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